Persönlichkeit hat viele Facetten
„Erkenne dich selbst“ (Gnothi seauton) oder „Erkenne, was du
bist“ verkündete eine Schrift am Apollontempel in Delphi ca.
Mitte des 5. Jahrhunderts vor Chr.
Offensichtlich war es den Menschen schon vor ein paar tausend
Jahren wichtig, sich selbst zu erkennen. Oder zumindest einigen
Menschen. „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ ist nicht nur
humorvoll gemeint, sondern hat selbstverständlich einen
ernsthaften Hintergrund.
Was ist das „Ich“, welches zu entdecken sich der Mensch zur
Aufgabe gemacht hat? In asiatischen Kulturen hat sich die
Meditation entwickelt und im Westen finden Yoga und andere
kontemplative Praktiken zur Selbsterfahrung großes Interesse.
Und gleichzeitig wird doch so vieles dafür getan, damit anderen
das eigene Ich verborgen bleibt.
Nicht jeder erhält einen Blick ins Innere der eigenen „Seele“ …
könnten sich vielleicht doch dunkle „Abgründe“ auftun, die
niemand sehen darf?
Gibt es überhaupt ein „Ich“ von dem wir so selbstverständlich
sprechen? Muss an der „Persönlichkeit“ eigentlich gearbeitet
werden? Wird sie entdeckt, entwickelt, entfaltet oder sollte ich
mich von ihr lösen?
Dazu gibt es tatsächlich ganz unterschiedliche Ansichten in der
Psychologie.
In unserer Gesellschaft gibt es offensichtlich einen zunehmenden
Trend, die Persönlichkeit „frei“ zu wählen,
sie sogar zu designen. Und bis zu einigen Millimetern in die Tiefe
geht das auch durchaus, ohne dass es zu ernsthaften
gesundheitlichen Schäden führt.
Aber befindet sich die „Seele“ nicht ganz tief in unserem Innern?
Reicht es dann, nur die Oberfläche aufzupolieren? Ist die Seele
das gleiche, wie die Persönlichkeit oder der Charakter oder das
Selbst, das Naturell, das Wesen, die Individualität, die Identität?
Alleine schon die Begriffsvielfalt deutet auf eine gewisse
Herausforderung bei diesem Thema hin.
Oder ist es vielleicht doch viel einfacher, so wie es Plutarch
formulierte. „Der Charakter ist weiter nichts als eine langwierige
Gewohnheit.“
Persönlichkeit hat viele Facetten
Nicht nur eine Persönlichkeit hat viele Facetten, sondern auch
das Thema „Persönlichkeit“ sowie das Phänomen
„Persönlichkeit“ als Forschungsgebiet haben viele Facetten.
Die Frage nach der menschlichen Natur, ist vielleicht so alt, wie
die Menschheit selbst. Und daher haben sich auch die
unterschiedlichsten Vorstellungen und Modelle über die
„menschliche Seele“ entwickelt.
Die alten Griechen sprachen von den Temperamenten, die durch
Säfte hervorgerufen wurden. Der Choleriker (Galle) ist besonders
als Chef bei vielen Mitarbeitern nicht sehr beliebt.
Das Wort „Person“ in den europäischen Sprachen geht auf das
lateinische Wort „persona“ zurück.
Dieses wurde hauptsächlich im Sinne von „Rolle, Charakter,
Maske“ gebraucht. Im alten Rom trugen die Schauspieler Masken
(persona), die dem Publikum die Eigenschaften der Person, die
sie darstellten, zeigen sollten. So gab es zum Beispiel Masken mit
lachenden, weinenden oder wütenden Gesichtern, die den
jeweils typischen Charakter einer Rolle erkennbar und
vorhersehbar machten.
„Bedenke, dass du nur der Schauspieler bist in einem Stück, das
der Spielleiter bestimmt. (…) Deine Aufgabe ist es nur, die dir
zugeteilte Rolle gut zu spielen; sie auszuwählen, steht einem
andern zu.“ (Epiktet, 50 bis 138 n. Chr.)
Für die Behavioristen war die Persönlichkeit eine „Black Box“.
Man schaute, was hinein ging und was rauskam (der Reiz und die
Reaktion). Denn das alleine glaubte man, messen zu können.
Persönlichkeitsmodelle existieren viele und eine einheitliche
Definition von „Persönlichkeit“ gibt es in der Psychologie bis
heute nicht. Der Psychologe Allport hat schon in den 30er Jahren
des letzten Jahrhunderts versucht, eine Fülle von über 50
verschiedenen Formulierungen aus Philosophie, Psychologie,
Theologie und Soziologie zu Kategorien zusammen zu fassen und
deren Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Daran ist zu
erkennen, dass in der Wissenschaft, wie im Alltagsdenken und -
erleben eine Vielfalt an Vorstellungen existiert, was der Mensch
im Inneren sei.
Für das Berufsleben will man seine Stärken (er)kennen und
gewinnbringend einsetzen. Auch hier haben sich vielfältige
Begrifflichkeiten gebildet: Kompetenzen, Qualifikationen,
Schlüsselqualifikationen, Softskills, Handlungskompetenzen,
Individualkompetenzen u.v.m.
Höher, weiter, schneller soll es dabei gehen … immer mehr
Leistung … die Konkurrenz ist groß.
Wer sich gut verkauft, liegt vorne. An der Persönlichkeit feilen,
damit sie wie ein feiner Schlüssel die gewünschten Türen öffnet.
Persönlichkeit als Werkzeug … Persönlichkeit als
Alleinstellungsmerkmal … Persönlichkeit als Marke!
Und dennoch, eine gesunde und stabile Persönlichkeit ist für ein
gesundes und erfüllendes Leben wichtig.
Aber wie entsteht denn überhaupt eine Persönlichkeit? Um das
zu beantworten müssen wir ja erst einmal bestimmen, was
Persönlichkeit überhaupt ist.
Dazu dient uns eine Definition aus dem Duden:
„Persönlichkeit ist die umfassende Bezeichnung für die
Beschreibung und Erklärung des einzigartigen und individuellen
Musters von Eigenschaften eines Menschen, die relativ
überdauernd dessen Verhalten bestimmen.“
Allport sieht zusätzlich noch eine „dynamische Organisation“, die
im Menschen wirksam ist und Erich Fromm gibt einen Hinweis
auf „ererbte und erworbene psychische Eigenschaften“. Damit
wird die Anlage-Umwelt-Thematik in den Fokus gerückt.
Der russische Psychologe Alexei Leontjew (1903 – 1979) geht
noch einen Schritt weiter und schreibt in seinem Hauptwerk
„Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit“: „der Mensch tritt nur als
ein mit bestimmten natürlichen Eigenschaften und Fähigkeiten
begabtes Individuum in die Geschichte ein … und nur als Subjekt
gesellschaftlicher Beziehungen wird er zur Persönlichkeit.“
Das bedeutet, die Persönlichkeit wird durch den Austausch mit
der Umwelt erzeugt.
Mit Definitionen könnten wir allerdings Seiten füllen. Das liegt an
den verschiedenen psychologischen Schulen mit ihrem
unterschiedlichen Verständnis des Menschen. Der Gründer einer
psychologischen Schule ist dabei nicht frei von seiner eigenen
Biografie. Und das sind Sie nicht und ich bin es auch nicht.
Welche Disziplinen beschäftigen sich mit dem Thema
Persönlichkeit? Welche verschiedenen Einflüsse vermutet man
daher?
In differenzierter Form spiegelt sich hier zudem das Anlage-
Umwelt-Modell wider.
Wie entsteht die Persönlichkeit?
Der Säugling beißt in seinen Schnuller oder in einen anderen
Gegenstand. Dann beißt der Säugling in seinen Finger und es tut
weh. Er beißt mal hier drauf, mal da drauf, dann wieder auf einen
Finger und es tut erneut weh. Vereinfacht gesagt, auf solchen
und ähnlichen Wegen bildet sich die Wahrnehmung eines
„Körper-Ich“ heraus.
Der Säugling kann Anfangs zwischen Ich und Umwelt noch nicht
unterscheiden. Daher sagte schon Freud, das frühe Ich sei zuerst
und vor allem ein „Körper-Ich“ (erste Form der Identität).
Der Säugling wird gesteuert von seinen Trieben, die das
Überleben sichern und lebt nach dem Prinzip, Unlust zu
vermeiden und Lust zu befriedigen.
Auf der Basis der sensomotorischen Funktionen und Fähigkeiten
des Körpers bilden sich nach und nach komplexere
Erfahrungswerte heraus. Objekte werden als solche erkannt und
vom Körper getrennt wahrgenommen. Sie bleiben zudem mehr
und mehr in Erinnerung („Objektpermanenz“ nach Piaget).
In dieser Trennung zwischen Subjekt und Objekt kann der
Säugling daher und gerade erst dann lernen, auf Objekte
einzuwirken.
Auf dieser Grundlage, sowie mit der Entwicklung der Sprache,
entstehen höhere mentale Funktionen.
Mit der Sprache entsteht eine neue Welt, die aus Symbolen,
Begriffen und Ideen besteht. Das entstehende mentale Ich kann
äußere Objekte und auch den Körper mit seinen Vorgängen zum
Gegenstand seiner Betrachtung machen. Diese Objekte existieren
dann auch weiter ohne ihre Anwesenheit. Dadurch entsteht eine
neue, abstraktere Form der Einflussnahme, mit der Objekte und
Vorgänge gesteuert werden können. Zum Beispiel, das
Aufschieben von Bedürfnissen oder die Entscheidung, auf etwas
zu verzichten, zuliebe einer „höheren“ Errungenschaft
(Sublimierung).
Was hier beschrieben wird, geht auch mit einer weiteren
wichtigen Entwicklung einher: der Erweiterung von
Perspektiven. Das Kind erweitert kontinuierlich seine
Perspektiven und lernt, das Leben weniger egozentrisch zu sehen
und Perspektiven „von außen“ sowie aus der Sicht anderer
einzunehmen.
Ja, ich weiß. Diese Fähigkeit lässt so manch ein Erwachsener
vermissen.
Ab ca. vier Jahren beginnt das Kind unendlich viele Fragen zu
stelle. Fragen, auf die wir als Erwachsene erst gar nicht (mehr)
kommen und es werden Dinge in einer Art hinterfragt, die uns
erstaunen lassen. In der Schule lernen dann die Kinder leider oft,
dass manche der Fragen dumm oder falsch seien. Und sie lernen,
welche Fragen die richtigen sind. Das reduziert leider deren
Intelligenz enorm. Staunen und Fragen stellen ist der Beginn
einer jeden Wissenschaft.
Sprache ist zudem ein äußerst wichtiges Thema und da wir die
Sprache eines Landes und einer Kultur so selbstverständlich
lernen – und viele Kinder lernen zwei, drei Sprachen mühelos
parallel – ist uns nicht bewusst, welches Wertesystem wir damit
in uns aufnehmen. Sprache formt das Denken und das Denken
„formt“ dann wiederum so vieles mehr. Das wäre vielleicht ein
Thema für einen weiteren Blog.
Nur zwei Zitate dazu:
„Wir sind, was wir denken. Alles, was wir denken, entsteht mit
unseren Gedanken.
Mit unseren Gedanken machen wir die Welt!“ (Gautama Buddha)
„Angehörige einer bestimmten Kultur kodifizieren die
Erfahrungen gemäß den Kategorien des jeweiligen linguistischen
Systems und erfassen nur das an Wirklichkeit, was ihnen
kodifiziert begegnet.! (Dorothy Lee, 1950, amerikanische
Anthropologin)
Die Psychologin, Janes Loevinger, hat die Stufen der Kognitiven
Entwicklung Piagets erweitert und in das Erwachsenenalter
hinein fortgeschrieben. Piagets höchste Stufe ist die, des formal
operationalen Bewusstseins, die sich ab 12 Jahren entwickelt.
Der Mensch wird fähig, abstrakte Konzepte zu verstehen und zu
entwickeln. Er entwickelt die Fähigkeit zum deduktiven Denken
und er kann über sich, das Leben und die Welt reflektieren.
Loevinger beschreibt in insgesamt neun Phasen die Fähigkeit zur
und die Entwicklung von erweiterten Perspektiven, in denen „der
andere“, das Umfeld verstärkt mit einbezogen und in seiner
Autonomie und Freiheit respektiert wird.
Loevinger geht nicht von einer „psychischen Instanz“, wie ein
„Ich“ aus, sondern von einem Prozess, der die Gedanken und
Erfahrungen eines Menschen organisiert. Die Entwicklung findet
ein Leben lang statt.
Diesem Ansatz oder Modell liegt ein konstruktivistisches
Entwicklungsverständnis zugrunde. Das bedeutet, dass
Strukturen, zum Beispiel Denkstrukturen, schrittweise aufgebaut
werden, die eine auf der Basis der anderen, die vorherige in der
nächsten aufgeht, also integriert wird, differenzierter und
komplexer und damit auch stabiler wird.
Loevinger war eine Schülerin von Erik H. Erikson, der ebenfalls
ein Phasenmodell der menschlichen Entwicklung formuliert hat.
Dieses stellt eine biodynamische und psychosoziale Entwicklung
dar, die in ganz bestimmten Phasen ablaufen sollte, bei denen
die einzelnen Phasen, jede für sich, ihre ganz eigene Zeit
benötigt, in der sie zur Entfaltung kommen sollte. Es gibt
einerseits einen biologischen, also auch angeborenen Aspekt,
den es zu beachten und zu leben gilt und man kann nicht einen
Schritt vor dem nächsten machen. Ansonsten entstehen
Störungen in der Persönlichkeit. Diese Phasen werden von Krisen
unterbrochen oder eher begleitet (sie müssen nicht heftig sein,
können es aber, sie können ganz leicht im Hintergrund wirken),
in denen es zur Neustrukturierung, zur Neustabilisierung und zur
Entwicklung auf eine nächst höhere Stufe kommt. Damit einher
gehen neue Werteentwicklungen sowie die Identifikation mit
einer neuen Rolle. Erikson baut auf den Theorien Freuds auf,
dehnt die Entwicklung der Phasen allerdings auf acht aus und
stellt die Entwicklung als einen Prozess dar, der bis ins
Erwachsenenalter hinein reicht, genau genommen, das gesamte
Leben hindurch nicht endet. Und er hat einen soziokulturellen
Aspekt hineingebracht, der die gegenseitige Beeinflussung von
Kindern und Eltern, auch über mehrere Generationen hinweg
und die Beeinflussung der Gesellschaft auf das Leben des
Individuums beinhaltet (Erik H. Erikson: Identität und
Lebenszyklus)
Modelle der Persönlichkeit
Die westliche Psychologie ist vorzugsweise eine „Ich-
Psychologie“. In der Psychologie, aber auch im
Alltagsverständnis werden häufig „Persönlichkeit“ und „Ich“,
aber auch der Mensch an sich mit der Persönlichkeit
gleichgesetzt. In der östlichen Psychologie, zum Beispiel im
Buddhismus, ist dies anders. Da ist die Persönlichkeit etwas, mit
der man sich identifiziert (hat). Und der Weg der Entwicklung ist
die „Des-Identifikation“ mit der Persönlichkeit und damit auch
mit dem Ich.
Hirnforschung
Nun gibt es aber auch aus einer ganz anderen und modernen
wissenschaftlichen Disziplin neue Erkenntnisse und Aussagen,
die vielleicht viele Menschen verunsichern werden. Nämlich aus
der Gehirnforschung. Da behaupten Wissenschaftler, so etwas,
wie ein Ich gäbe es gar nicht.
Zumindest konnte man bisher kein Ich finden. Also keine
zentrale, alles steuernde und übergeordnete Instanz. Stattdessen
fand man heraus, dass unsere Funktionen, Wahrnehmungen und
Reaktionen aus unterschiedlichen Gehirnarealen gesteuert
werden. Und dass die Großhirnrinde (unser bewusstes Zentrum)
nur nachträglich erklärt, was schon im Gehirn an anderer Stelle
„entschieden“ wurde.
Der Biologe und Hirnforscher, Gerhard Roth, kommt aufgrund
eigener und Experimente weiterer Wissenschaftler zu dem
Ergebnis, dass es so etwas, wie einen freien Willen gar nicht gibt.
„Der freie Wille ist nur eine nützliche Illusion“.
Ein allem zugrunde liegendes Ich gibt es nicht, sondern nur ein
oszillierendes Bündel von unterschiedlichen Ich-Zuständen. Roth
beschreibet acht Ich-Zustände. Diese lassen sich
unterschiedlichen, sich überlappenden Netzwerken zuordnen.
Das Körper-Ich
gewährleistet das Bewusstsein, dass der Körper, in dem ein
Mensch steckt, sein Körper ist.
Das Verortungs-Ich
gewährleistet das Bewusstsein, sich gerade an diesem Ort und
nicht woanders zu befinden.
Das perspektivische Ich
vermittelt dem Menschen das Bewusstsein, den Mittelpunkt der
von ihm erfahrenen Welt zu bilden.
Das Ich als Erlebnissubjekt
vermittelt dem Menschen das Bewusstsein, er selbst habe
Wahrnehmungen, Ideen, Gefühle, und nicht etwa ein anderer.
Das Autorschafts- und Kontroll-Ich
vermittelt dem Menschen das Bewusstsein, dass er Verursacher
und Kontrolleur seiner Gedanken und Handlungen ist.
Das autobiographische Ich
gewährleistet dem Menschen das Bewusstsein, auch heute
derjenige zu sein, der er gestern war, und lässt ihn in seinen
verschiedenen Empfindungen Kontinuität erleben.
Das selbst-reflexive Ich
macht es möglich, dass der Mensch über sich selbst nachdenkt.
Das ethische Ich - das Gewissen
vermittelt dem Menschen das Bewusstsein, es gebe in ihm eine
Instanz, die ihm sagt oder befiehlt, was er zu tun und zu lassen
habe.
Diese verschiedenen Ich-Zustände erleben wir in aller Regel als
ein einheitliches Ich. Gleichzeitig empfinden wir jedoch ein Auf
und Ab der unterschiedlichsten Selbst-Empfindungen, in denen
von einem Moment auf den anderen das Körperliche, das
Perzeptive, das Emotionale oder das Kognitive vorherrscht. Die
verschiedenen Ich-Zustände verbinden sich in ständigem
Wechsel miteinander und schaffen so den "Strom der Ich-
Empfindung" (Roth)
"Die Wirklichkeit und ihr Ich sind Konstruktionen, welche das
Gehirn in die Lage versetzen, komplexe Informationen zu
verarbeiten, neue, unbekannte Situationen zu meistern und
langfristige Handlungsplanung zu betreiben.“
Typenlehre
Wir drehen die Zeit zurück um ca. 2500 Jahre. Auch damals gab
es schon Persönlichkeitstheorien, die bis heute noch, mehr oder
weniger, angewandt werden und zudem sehr praktikabel sind.
Viele kennen jemanden, der oder die leicht aufbrausend ist,
schnell „auf 180“ und dem eigenen Ärger gerne Luft macht. Einen
solchen Menschen nennt man dann „cholerisch“. Man sagt zwar:
„Hunde, die bellen, beißen nicht“, aber dennoch ist der Umgang
mit diesem Typus für viele nicht so leicht.
Die Temperamente
Die Lehre der „Temperamente“ geht hauptsächlich zurück auf
Galen und Hippokrates (dieser lebte 460 – 377 v.Chr.).
Hippokrates ging von einer körperlichen Disposition aus, die
darauf beruht, dass verschiedene Körpersäfte im Menschen
vorherrschen. Beim Choleriker ist es die gelbe Galle („er spuckte
Gift und Galle“), der Melancholiker hat einen Überschuss an
schwarzer Galle und erlebt tiefe Gefühle, der Phlegmatiker
(phlegma = Schleim) ist antriebsschwach, der Sanguiniker
(sangus = Blut) ist eine sorglose und unbeständige
Persönlichkeit.
Die vorherrschenden Säfte bestimmen den Typ des Menschen
und sein Verhalten. Aber der Zusammenhang zwischen diesen
Säften und einer bestimmten Persönlichkeit konnte niemals
nachgewiesen werden. Die moderne Temperamentsforschung
wurde von den Kinderpsychiatern Thomas & Chess (1980) mit
ihrer New York Longitudinal Study (NYLS) neu begründet. In
dieser Studie konnte man bereits bei Kleinkindern in den ersten
Lebensmonaten neun Temperamentsdimensionen bestimmen:
Ablenkbarkeit, Aktivität, Annährung–Rückzug,
Anpassungsfähigkeit, Aufmerksamkeitsdauer,
Reaktionsintensität, sensorische Empfindlichkeit,
Stimmungslage und Tagesrhythmus.
Typenlehren gibt es zahlreiche und sie sind auch deswegen
beliebt, weil man durch die Typisierung schnell ein vermeintlich
eindeutiges Bild erhält, welches scheinbar leicht anzuwenden ist.
In der Anwendung im Alltag jedoch werden sie dann wieder sehr
komplex. Außerdem gibt es Mischtypen und dadurch werden
diese „Persönlichkeiten“ wieder facettenreicher.
Der jeweilige Typus reagiert entsprechend in verschiedenen
Situationen und bei verschiedenen Anforderungen:
Kommunikation, Interaktion, Arbeitsverhalten,
Entscheidungsverhalten, Konfliktverhalten, … und
selbstverständlich ist dies alles keine Mathematik.
Modelle bleiben Modelle, die Realität ist stets sehr viel
komplexer. Eine Landkarte gibt eine Orientierung. Aber erst wenn
man den Weg geht oder fährt, erlebt man die Strecke und
Umgebung mit allen Sinnen und Reizen. Es geht auf und ab, die
Landschaft verändert sich.
Welche Typenmodelle gibt es noch?
Man zählt dazu die Astrologie, Numerologie, die Physiognomie,
Naturell-Lehre und Körpertypen-Lehre.
Aus Indien sind ebenfalls Körpertypen (Doshas) bekannt: Vata,
Pitta und Kapha. Sie werden eher unter medizinischen
Gesichtspunkten gesehen, aber unterscheiden sich ebenfalls im
Verhalten. Auch hier kennt man Einflüsse durch den
vorherrschenden Stoffwechsel und die Heilungserfolge bei
chronischen Krankheiten sind äußerst hoch. In der chinesischen
Medizin gibt ebenfalls Typenmodelle, die sich auf die Elemente
beziehen: Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Danach wird
gekocht und behandelt.
Körperorientierte Modelle konnten sich in der westlichen
Psychologie nie so recht durchsetzen. Das mag auch daran
liegen, dass der Verstand mit seinen Funktionen und Leistungen
in der westlichen Welt einen höheren Stellenwert besitzt und
weil mit Descartes (1596 – 1650) eine Trennung zwischen Körper
und Seele stattgefunden hat: „Ich denke also bin ich“. Diese
Annahme einer Trennung zwischen Körper und Seele ist tief in
das Denken von Medizinern und Naturwissenschaftlern
eingedrungen.
Aber der Körper hat weitaus mehr Einfluss auf unser Verhalten
als viele ahnen. Denn der Körper ist die Quelle aller physischen
Energie, die uns versorgt und er hat seine speziellen Bedürfnisse.
Besonders dann, wenn die natürlichen körperlichen Funktionen
unterdrückt werden. Bedürfnis nach Bewegung, Ausdruck, Nähe,
Distanz, Sexualität, … Es entstehen Störungen, die tief auf die
Psyche einwirken. Auf dieser Beobachtung und Erkenntnis haben
sich körperorientierte Therapieverfahren entwickelt.
Was auch gerne vergessen wird: das Gehirn ist ein Teil des
Körpers. Und bevor dieses in der Embryonalentwicklung
„vollständig“ ausgebildet ist, sind andere Organe schon früher
voll funktionstätig. Zum Beispiel das Ohr (ab der zehnten
Schwangerschaftswoche). Was das kleine und noch
unvollständige Wesen wohl schon so früh hören möchte?
Uns allen bekannte Formulierungen, wie “ich höre auf mein
Herz“ oder „das war eine Bauchentscheidung“, werden durch
neue wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigt. Zum Beispiel
spricht man vom Herzen sowie vom Darm als zweites Gehirn.
Denn es finden sich hier sehr komplexe neurologische Strukturen
und hormonelle Aktivitäten, die denen des Gehirns entsprechen.
Beide Organsysteme nehmen weitaus stärkeren Einfluss auf das
Gehirn als bisher bekannt und haben zudem ein Eigenleben.
Sogar die Zusammensetzung von Bakterien im Darm haben
wahrscheinlich Einfluss auf unser Verhalten.
C.G. Jung
C.G. Jung (1875 – 1961) war ein Schüler Freuds, trennte sich
jedoch von Freud aufgrund unterschiedlicher Ansichten zum
Thema Sexualität und Freuds Libido-Theorie.
Aufgrund seiner sehr aufmerksamen Beobachtungsgabe
erkannte er bei seinen Mitmenschen zwei unterschiedliche
Einstellungen zu sich selbst und ihrer Umwelt.
Der eine Typ orientiert sich stark an seine Umwelt und den
Mitmenschen, ist im Denken und Handel nach außen orientiert,
kontaktfreudig und bestrebt, auf seine Umwelt aktiv
einzuwirken.
Der andere Typ ist eher nach innen gerichtet, beschäftigt sich
mehr mit seinen inneren Vorgängen, Denken und Fühlen, ist eher
zurückhaltend, was Kontakt betrifft, zögernd und verschlossen.
Diese beiden Idealtypen nennt er:
Extraversion und Introversion
Idealtypen, weil sie jeweils am Ende eines Kontinuums stehen.
Neben diesen beiden Grundtypen benennt C. G. Jung noch vier
Grundfunktionen der Psyche, die unabhängig von Extraversion
und Introversion auftreten. Es handelt sich dabei um die
„rationalen Funktionen“ des Denkens und Fühlens (rational, weil
wertend) und die „irrationalen Funktionen“ des Empfindens und
Intuierens (irrational, weil nur wahrnehmend).
Daraus ergeben sich acht Persönlichkeitstypen:
Jung war ein Psychoanalytiker und damit ist sein Modell in erster
Linie ein psychodynamisches Modell. Aber es beschreibt auch
eine Typologie mit der Unterscheidung des extravertierten und
introvertierten Menschen sowie der vier Funktionstypen.
Jung hat weiterhin sogenannte Archetypen beschrieben, die aus
dem kollektiven Unbewussten stammen.
Für Jung gab es auch bewusste und unbewusste Zustände. Aber
er unterschied zudem ein persönliches von einem kollektiven
Unbewussten. In diesem kollektiven Unbewussten ist das
geistige und seelische Erbe der Menschheitsgeschichte
gesammelt. Ähnlich, wie es eine biologische Evolution gibt, in
der die Geschichte der Entwicklung der Lebewesen enthalten ist.
Da die Menschen durch die Geschichte hindurch stets ähnliche
und gleiche Erfahrungen machen, bilden sich psychische
Grundmuster heraus, die wie Grundmotive auf die menschliche
Psyche wirken: die Archetypen. Jung beschreibt zwölf dieser
Archetypen.
Prof. Hans Eysenck
Der deutsch-britische Psychologe, Hans Eysenck (1916 – 1997),
hat das Modell der Temperamente sowie die Körpertypen nach
Ernst Kretschmer (1888 – 1964) mit den beiden Einstellungstypen
„Introversion“ und „Extraversion“ des Psychoanalytikers, C.G.
Jung, verbunden und einen weiteren Aspekt hinzugefügt: den
Neurotizismus. Das bedeutet das Spektrum, in dem ein Mensch
eher „stabil“ oder eher „instabil“ in seinem Verhalten ist.
Eysenck geht davon aus, dass die Neigung zu Introversion und
Extraversion, sowie auch Neurotizismus genetisch bedingt ist
und ihren Sitz im Gehirn und zentralen Nervensystem hat.
Bei Introvertierten ist das Nervensystem eher ansprechbar und
erregbar. Wird emotional auf Ereignisse reagiert, tritt die
neurotische Dimension mehr in den Vordergrund. Introvertierte
neigen aufgrund ihrer Sensibilität mehr zu Besorgnis. Bei
extravertierten Menschen ist das Nervensystem weniger erregbar
und daher suchen sie eher nach äußeren Stimulatoren und
fühlen sich im Kontakt mit anderen Menschen eher wohl.
Nach Eysenck ist die Persönlichkeit „die mehr oder weniger
stabile und dauerhafte Organisation des Charakters,
Temperaments, Intellekts und Körperbaus eines Menschen, die
seine einzigartige Anpassung an die Umwelt bestimmt. Der
Charakter eines Menschen bezeichnet das mehr oder weniger
stabile und dauerhafte System seines konativen Verhaltens (des
Willens); sein Temperament das mehr oder weniger stabile und
dauerhafte System seines affektiven Verhaltens (der Emotion
oder des Gefühls); sein Intellekt das mehr oder weniger stabile
und dauerhafte System seines kognitiven Verhaltens (der
Intelligenz); sein Körperbau das mehr oder weniger stabile
System seiner physischen Gestalt und neuroendokrinen
(hormonalen) Ausstattung“.
Eysencks Persönlichkeitszirkel
(Eysencks Persönlichkeitsmodell ist weniger ein Typologisches,
sondern ein Faktorenmodell. Das heißt, es wurde aufgrund einer
Vielzahl an Eigenschaften auf wenige Dimensionen reduziert.)
Eduard Spranger
Es gibt auch Typenmodelle, die sich mit einer geistigen
Grundausrichtung beschäftigen. Zum Beispiel, welche Werte-
Ausrichtung ein Mensch favorisiert.
Eduard Spranger (1882 – 1963) war ein deutscher Pädagoge und
hat maßgeblich daran mitgewirkt, dass die Pädagogik als eine
eigenständige akademische Disziplin anerkannt wurde. Zudem
beeinflusste er die Lehrerausbildung in Deutschland.
Spranger geht von einer sechsfachen Gliederung der
menschlichen Kultur aus, woraus sich sechs geistige
Grundhaltungen herauskristallisieren:
•
Theoretischer Mensch
•
Ökonomischer Mensch
•
Ästhetischer Mensch
•
Politischer Mensch
•
Sozialer Mensch
•
Religiöser Mensch
Bei Typenmodellen spricht man stets von Idealtypen. So ist das
auch in diesem Fall. Es treten in der Realität meist komplexe
Typen auf. Der Theoretiker mit politischer oder der Techniker mit
ökonomischer Ausrichtung.
Der „person-job-fit“ Ansatz
John L. Holland (1919 – 2008) war ein amerikanischer
Psychologe, der ein Karriereentwicklungsmodell entwickelt hat.
Dieses Modell basiert darauf, dass Menschen ebenfalls
Neigungen zu einer bestimmten Denk- und Wertestruktur haben,
die in der Persönlichkeit verankert sind. Je nach Neigung
entscheiden sie sich für ein bestimmtes berufliches Umfeld.
Andersherum gesagt eignen sie sich demnach auch für ein
bestimmtes berufliches Umfeld ganz besonders, weil sie
aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur hier am besten passen.
Dieser Ansatz ist auch bekannt unter der Abkürzung RIASEC-
Modell.
Holland unterscheidet sechs Grundpersönlichkeiten:
Welcher Typ passt zudem zu welchem Umfeld:
Vielen ist dieser Ansatz auch im Rahmen eines Berufsinteressen-
Tests bekannt und wird gerne bei Berufseinsteigern eingesetzt.
Tiefenpsychologie
Sigmund Freud
Sigmund Freud (1856 – 1939) entwickelte ein Modell der
Persönlichkeit, welches man als psychodynamisches Modell,
aber auch als Strukturmodel bezeichnen kann. Die
Persönlichkeitsstruktur nach Freud besteht aus drei Instanzen:
dem Es, dem Ich und dem Über-Ich. Das psychodynamische
ergibt sich aus den ständigen Konflikten zwischen dem Es und
dem Über-Ich sowie der Realität, zwischen denen das Ich
vermittelt.
Der Körper mit seinen Trieben, die zur Befriedigung drängen
(Lustprinzip) ist die Quelle des Es. Das Neugeborene strebt aus
dem Überlebensprinzip heraus nach Lusterfüllung und will
Unlust vermeiden. Durch die Interaktion mit der Umwelt
entstehen jedoch nach und nach Einschränkungen, mit denen
das kleine Wesen zurechtkommen muss. Dies stellt Freud als den
Konflikt zwischen dem Es und dem Über-Ich dar. Das Es wird in
seinem Bestreben eingeschränkt und Triebe müssen verdrängt
werden. Dadurch entsteht Angst, welche die erste Grundlage des
Über-Ich darstellt. Das sich bildende Ich (Realitätsprinzip)
vermittelt zwischen diesen beiden Instanzen und den
Forderungen aus der Realität, indem es einen
Abwehrmechanismus entwickelt.
Dazu stehen ihm verschiedene Techniken zur Verfügung:
Identifikation
Der Mensch identifiziert sich mit einer stärkeren Persönlichkeit,
um die eigenen Selbstzweifel zu überdecken.
Projektion
Das, was jemand an sich selbst ablehnt, wird auf andere
Personen projiziert. Unliebsame Eigenschaften an einem selbst
werden in anderen Menschen erkannt, statt in einem selbst.
Rationalisierung
Fehlverhalten wird mit vermeintlich rationalen Gründen erklärt.
Reaktionsbildung
Unliebsame Empfindungen werden ins Gegenteil umgewandelt
(jemand engagiert sich für Nächstenliebe, weil er/sie die eigenen
Aggressionen nicht wahrhaben will.
Regression
Rückfall in frühere, eigentlich bereits abgeschlossene
Entwicklungsphasen.
Sublimation
Wenn primitive, sozial nicht akzeptierte Arten der Befriedigung
von Bedürfnissen in sozial akzeptable umgewandelt und somit
neutralisiert werden.
Verdrängung
Unangenehme und schmerzhafte Empfindungen werden aus
dem Bewusstsein verdrängt.
Verschiebung
Negative Empfindungen werden nicht auf den/die UrheberIn
gerichtet, sondern auf ein Ersatzobjekt.
Widerstand
Verdrängte Inhalte drängen zurück ins Bewusstsein. Der Versuch,
sich dagegen zu wehren, wird als Widerstand bezeichnet.
Abwehrmechanismen sind nach Freud bis zu einem gewissen
Grad notwendig, damit sich eine Persönlichkeit heranbilden
kann, die in einem gesellschaftlichen Kontext funktioniert. Ein
Zuviel an Verdrängung führt jedoch zu Neurosen oder sogar zu
Psychosen. Das erwachsene Ich richtet sich nach moralischen
Prinzipien, es stellt das Realitätsprinzip dar und überprüft sich
kritisch unter Beachtung des Über-Ich und des Es.
Freud hatte viele Schüler und seine Psychoanalyse fand weite
Verbreitung. Aber es gab auch immer wieder Schüler, die sich in
Teilen von Freuds Theorien oder Ansätzen distanziert haben oder
sie in Frage stellten. Sie gingen andere Wege und wurden meist
schon bald aus der Psychoanalytischen Vereinigung
ausgeschlossen.
So, wie C.G. Jung, Alfred Adler oder Wilhelm Reich.
Alfred Adler
Alfred Adler (1870 – 1937) gründete daher eine eigene
Vereinigung und begründete eine neue Psychologie, die
Individualpsychologie. Seine Theorie von der menschlichen
Entwicklung und Persönlichkeit unterschied sich sehr von der
Freudschen.
Der Mensch ist ein organisches Ganzes, eine unteilbare Einheit
von Körper, Seele und Geist. Adler betont die soziale
Persönlichkeit des Menschen: der Charakter bildet sich als
Resultat aus der Begegnung mit anderen Menschen
(Gemeinschaft).
Der Mensch ist mehr durch Zukunftserwartungen motiviert als
durch vergangene Ereignisse (Finalität).
Seine Annahme war: der Mensch ist eher durch sein Bestreben
nach Überwindung eines Minderwertigkeitsgefühls angetrieben.
Zu Anfang eine Organminderwertigkeit sowie der Versuch einer
Kompensation (durch andere Organe) bzw. Überkompensation
(durch Training der minderwertigen Organe). Es können
organische oder aber auch geistige Defizite vorliegen.
Der Mensch entwickelt schon früh einen unbewussten,
„geheimen“ Lebensplan.
Die Mittel der Kompensation können von der Umwelt akzeptiert
werden, angepasst sein, unakzeptiert oder auch fehlangepasst
sein. Je nachdem entstehen daraus Konflikte. Aus einem Gefühl
der Minderwertigkeit entsteht ein Streben nach Macht.
Wilhelm Reich
Wilhelm Reich (1897 – 1957) ist der Frage nach der Sexual- und
Lebensenergie im Menschen tiefer nachgegangen und hat in der
Libido eine biophysikalische Energie gesehen, die sowohl
intrapsychische als auch intraorganismische Strukturen bildet.
Freud war auf der Suche nach der Energie, die das neurotische
Symptom unterhält. Reich glaubte in der organischen Panzerung
die Blockade für die, ansonsten frei fließenden vegetativen
Energie gefunden zu haben. Ein Beispiel soll die Entstehung von
Charakter- und Körperstruktur durch Frustration der
Triebwünsche verdeutlichen:
Wird ein spontanes Verhalten, ein Bedürfnis im weitesten Sinne,
von der Umgebung nicht beantwortet oder sogar in einer
bestimmten Weise sanktioniert, entsteht Frustration. Diese
Frustration äußert sich im Allgemeinen in Wut und Trauer, welche
ein Säugling völlig selbstverständlich und spontan zum Ausdruck
bringt. Der Säugling ist noch völlig ungepanzert, das heißt,
sämtliche vegetative Energie fließt völlig frei und unbehindert
gemäß den organismischen Bedürfnissen. Im ungünstigsten Fall
wird auch diese spontan geäußerte Frustration mit
Zurückweisung beantwortet, was bei Gefühlen wie Wut und
Trauer häufig der Fall ist, denn sie sind für die Umgebung im
höchsten Maße bedrohlich. Spätestens hier beginnt die
eigentliche Verdrängung. Indem sich ein Teil der
zurückgehaltenen Energie abspaltet und gegen sich selbst
wendet, entsteht eine Panzerung, welche durch dieselbe Energie
aufrechterhalten wird. Die Panzerung manifestiert sich aber in
verschiedenen funktional identischen Formen. Auf körperlicher
Ebene in Form einer muskulären Kontraktion, also Erhöhung des
Muskeltonus oder aber einer Erschlaffung der Muskulatur, die
den spontanen Ausdruck, d.h., die vegetative Energie
zurückhalten. Im psychischen Bereich in Form von
Abwehrmechanismen. An der Stelle, der gegen sich selbst
gewendeten Energie, entsteht ein innerer sowie äußerer
Kontaktverlust, während im äußeren Verhalten sich ein
Ersatzkontakt entwickelt, der nichts mehr mit dem primären
Impuls zu tun haben muss.
Auf diesem Wege entstehen sowohl Charakterpanzer
(Charakterstruktur) als auch Muskelpanzer (Körperhaltung,
Körperstruktur), die angepasste Persönlichkeit also. In beiden ist
die gesamte Entstehungsgeschichte enthalten. Die Konflikte
jedoch sind der betroffenen Person in der Regel unbewusst.
Ebenso die Art und Weise ihrer Körperhaltung und -reaktionen.
Durch Charakteranalyse sowie Körperanalyse ist es möglich,
unbewusstes Material der Reflexion zugänglich zu machen.
Reich hatte körperorientierte Zugänge zur Psyche entwickelt.
Unter anderem die vertiefte Atmung sowie weitere
„Körperübungen“, die gepanzerte Energien und damit die
Emotionen befreiten. Er nannte seine Therapie: Vegetotherapie.
Er legte damit die Grundsteine späterer Körpertherapien und
beeinflusste nachhaltig das moderne Verständnis von den
Beziehungen zwischen Körper und Psyche in der Therapie.
Für Reich war die gesunde Sexualität und Persönlichkeit
synonym mit der frei fließenden organismischen Energie, d.h.
mit der Gesamtheit der natürlichen Ausdrucksfähigkeiten des
Menschen, ohne Funktionseinschränkung. Reich entwickelte
einen gesellschaftskritischen Ansatz und untersuchte
massenpsychologische Phänomene, wie zum Beispiel den
Faschismus, der auf Unterdrückung der Sexualität aufbaut. Für
Reich hat jede patriarchalische und regide Gesellschaftsordnung
einen Nutzen von dieser Unterdrückung.
(Collage aus Bildern aus dem Buch: „Die Rede an den kleinen
Mann“ von Wilhelm Reich
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Behaviorismus
Die Seele ist eine „Black Box“
Lernen am Modell
Die Humansitische Psychologie
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Wer bin ich und wenn ja, wie viele
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