Lebensweisheiten
Der angekettete Elefant (Jorge Bucay)
»Ich kann nicht«, sagte ich. »Ich kann es einfach
nicht.«
»Bist du sicher ?« fragte er mich.
»Ja, nichts täte ich lieber, als mich vor sie hinzustel-
len und ihr zu sagen, was ich fühle.
Aber ich weiß, dass ich es nicht kann.«
Der Dicke setzte sich im
Schneidersitz in einen dieser
fürchterlichen blauen
Polstersessel in seinem
Sprechzimmer. Er lächelte, sah
mir in die Augen, senkte die
Stimme wie immer, wenn er wollte, dass man ihm
aufmerksam zuhörte, und sagte: »Komm, ich erzähl
dir eine Geschichte.«
Und ohne ein Zeichen meiner Zustimmung abzu-
warten, begann er zu erzählen.
Als ich ein kleiner Junge war, war ich vollkommen
vom Zirkus fasziniert, und am meisten gefielen mir
die Tiere. Vor allem der Elefant hatte es mir ange-
tan. Wie ich später erfuhr, ist er das Lieblingstier
vieler Kinder. Während der Zirkusvorstellung
stellte das riesige Tier sein unge-heures Gewicht,
seine eindrucksvolle Größe und seine Kraft zur
Schau.
Nach der Vorstellung aber und auch in der Zeit bis
kurz vor seinem Auftritt blieb der Elefant immer
am Fuß an einen kleinen Pflock angekettet.
Ich schloss die Augen und stellte mir den wehrlosen
neugeborenen Elefanten am Pflock vor. Ich war mir
sicher, dass er in diesem Moment schubst, zieht und
schwitzt und sich zu befreien versucht. Und trotz
aller Anstrengung gelingt es ihm nicht, weil dieser
Pflock zu fest in der Erde steckt.
Ich stellte mir vor, dass er erschöpft einschläft und
es am nächsten Tag gleich wieder probiert, und am
nächsten Tag wieder, und am nächsten …
Bis eines Tages, eines für seine Zukunft verhängnis-
vollen Tages, das Tier seine Ohnmacht akzeptiert
und sich in sein Schicksal fügt. Dieser riesige,
mächtige Elefant, den wir aus dem Zirkus kennen,
flieht nicht, weil der Ärmste glaubt, dass er es nicht
kann.
Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohn-
mächtig er sich kurz nach seiner Geburt gefühlt hat,
in sein Gedächtnis eingebrannt. Und das Schlimme
dabei ist, dass er diese Erinnerung nie wieder ernst-
haft hinterfragt hat. Nie wieder hat er versucht,
seine Kraft auf die Probe zu stellen.
»So ist es, Demian. Uns allen geht es ein bisschen so
wie diesem Zirkuselefanten: wir bewegen uns in der
Welt, als wären wir an Hunderte von Pflöcken
gekettet.
Wir glauben, einen ganzen Haufen Dinge nicht zu
können, bloß weil wir sie ein einziges Mal, vor sehr
langer Zeit, damals, als wir noch klein waren, aus-
probiert haben und gescheitert sind.
Der Pflock war allerdings nichts weiter als ein win-
ziges Stück Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief
in der Erde steckte. Und obwohl die Kette mächtig
und schwer war, stand für mich ganz außer Zweifel,
dass ein Tier, das die Kraft hatte, einen Baum mit-
samt der Wurzel auszureißen, sich mit Leichtigkeit
von einem solchen Pflock befreien und fliehen
konnte.
Dieses Rätsel beschäftigt mich bis heute. Was hält
ihn zurück? Warum macht er sich nicht auf und
davon?
Als Sechs- oder Siebenjähriger vertraute ich noch
auf die Weisheit der Erwachsenen. Also fragte ich
einen Lehrer, einen Vater oder Onkel nach dem
Rätsel des Elefanten. Einer von ihnen erklärte mir,
der Elefant mache sich nicht aus dem Staub, weil er
dressiert sei. Meine nächste Frage lag auf der Hand:
»Und wenn er dressiert ist, warum muss er dann
noch angekettet werden?«
Ich erinnere mich nicht, je eine schlüssige Antwort
darauf bekommen zu haben. Mit der Zeit vergaß
ich das Rätsel um den angeketteten Elefanten und
erinnerte mich nur dann wieder daran, wenn ich
auf andere Menschen traf, die sich dieselbe Frage
irgendwann auch schon einmal gestellt hatten.
Vor einigen Jahren fand ich heraus, dass zu meinem
Glück doch schon jemand weise genug gewesen war,
die Antwort auf die Frage zu finden: Der
Zirkuselefant flieht nicht, weil er schon seit frühes-
ter Kindheit an einen solchen Pflock gekettet ist.
Wir haben uns genauso verhalten wie der Elefant,
und auch in unser Gedächtnis hat sich die Botschaft
eingebrannt: Ich kann das nicht, und ich werde es
niemals können.
Mit dieser Botschaft, der Botschaft, dass wir macht-
los sind, sind wir groß geworden, und seitdem
haben wir niemals mehr versucht, uns von unserem
Pflock loszureißen. Manchmal, wenn wir die
Fußfesseln wieder spüren und mit den Ketten klir-
ren, gerät uns der Pflock in den Blick, und wir den-
ken: Ich kann nicht, und werde es niemals können.«
Jorge machte eine lange Pause. Dann rückte er ein
Stück heran, setzte sich mir gegenüber auf den
Boden und sprach weiter: »Genau dasselbe hast
auch du erlebt, Demian. Dein Leben ist von der
Erinnerung an einen Demian geprägt, den es gar
nicht mehr gibt und der nicht konnte.
Der einzige Weg herauszufinden, ob du etwas
kannst oder nicht, ist, es auszuprobieren, und zwar
mit vollem Einsatz …
…aus ganzem Herzen! «
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